Der Herzfehler
Im Frühsommer 1944 erhielten Alex und ich die Aufforderung zur Musterung, Alex eine Woche nach mir. »Goebbels-Aufgebot« nannte man diese große Musterungsaktion, mit der unter anderem alle in Deutschland lebenden Ausländer, sofern sie nicht in Internierungslagern festsaßen, für die Wehrmacht erfaßt wurden.
Ich besprach mich mit Alex, ob es irgendeine Möglichkeit gäbe, uns der Musterung zu entziehen, denn, so überlegten wir, einem Musterungsarzt, der täglich Dutzende junger Männer auf ihre Kriegsdiensttauglichkeit prüfte und sie auf Geschlechtskrankheiten untersuchte, mußte ein rituell beschnittener Penis auffallen.
Was also konnten wir tun? Einfach nicht hingehen? Dann würden sie uns holen kommen. Sollten wir untertauchen? Aber wo? Selbst wenn wir verschwunden wären, hätten wir damit die Aufmerksamkeit der Behörden auf unsere Familie gelenkt. Das würde zwangsläufig ihren Untergang bedeuten. So konnten wir nichts anderes tun, als zur Musterung zu gehen. Uns blieb keine andere Wahl.
Ich hatte Angst wie selten zuvor, und in den Nächten vor der Musterung fürchterliche Alpträume. Schreiend wachte ich auf, weil vier Männer, möglicherweise waren es Militärärzte, mich an Armen und Beinen gepackt hielten und mich auseinanderreißen wollten, und ich wagte nicht mehr einzuschlafen aus Furcht, sie könnten die Tortur fortsetzen.
Mama war sehr gefaßt, als ich mich am Tag der Musterung von ihr verabschiedete. Sie sagte nur: »Komm gesund wieder, Walja!« Papa begleitete mich zur Tür und küßte mich links und rechts und auf den Mund. Ich spüre noch deutlich seinen stacheligen Bart in meinem Gesicht. Seine Stimme zitterte, als er flüsterte: »Mein guter Waljitschka«, und Tränen rannen ihm in den grauen Bart. Mit beiden Händen hielt er meinen Kopf, schaute mich an, als wolle er noch irgend etwas sagen, und ließ mich los, indem er die Hände auseinandernahm; es schien, als habe er vergessen, sie nach unten zu tun.
Papa war zu der Zeit längst in einem Zustand der Hoffnungslosigkeit und Selbstaufgabe. Kein Wort der Aufmunterung kam von ihm, keine Aufforderung an mich oder Alex, etwas zu riskieren, um zu überleben. Was auch immer geschah, er ließ es geschehen, angstgelähmt, resigniert, mit einer unendlichen jüdischen Traurigkeit. Aber war mein Verhalten anders? Was hatte ich denn riskiert?
So ging ich den Weg zur Musterung in die Wiesenhüttenstraße, fiebernd vor Angst, aber ich ging. Schleppte mich wie mit bleiernen Schuhen, quälte mich Schritt vor Schritt und malte mir aus, wie ich untersucht, als Jude entlarvt, verhaftet und unverzüglich, ohne Gelegenheit, Mama und Papa noch einmal zu sehen, in die Vernichtungskammer geschickt würde.
Dann stand ich vor dem Feldwebel. Das Phantasieren hatte ein Ende: Musterungsbescheid abgeben, Formular ausfüllen, warten, ausziehen bis auf die Turnhose und wieder warten, mit acht oder zehn anderen in das Untersuchungszimmer eintreten, immer dem Alphabet nach.
Nun kam der Moment, dem ich seit zehn Tagen entgegengezittert hatte, der Befehl: »Hosen runter!« und: »Hosen nach hinten legen!« Die Befehle gab der Sanitätsfeldwebel, der seitlich stand. Der Militärarzt ging von einem zum andern und inspizierte mit solcher Akribie die Geschlechtsteile des Goebbels-Aufgebots, als hinge davon Sieg oder Niederlage ab.
Ängstlich verfolgte ich, wie dieser Teil der Untersuchung vor sich ging. Erst besichtigte der Arzt den Penis in Hängelage, dann mußte man ihn anheben, damit der Arzt die Unterseite sehen konnte, hier und da drückte er auch mal auf einen Hodensack; danach mußte die Vorhaut zurückgezogen werden. Das ging alles sehr zügig, jeder schaute beim Nebenmann ab, was er zu tun hatte.
Während er die andern begutachtete, hatte ich reichlich Gelegenheit, mich mit ihnen zu vergleichen und den Unterschied festzustellen. Er war unübersehbar. Ich mit einer blanken Eichel, und die andern in der Reihe mit einem sich verjüngenden Ende. Sie sahen nicht gleich aus, die einen waren zusammengeschrumpft, andere machten den Eindruck, als hätten frierende Kahlköpfe sich wärmende Schals umgetan, bei einigen sah das Glied wie das Endstück einer Karotte aus, von dem ein starker Strunk abgedreht war. Aber keines war dem meinen ähnlich.
Jetzt war ich an der Reihe. Wieder zuerst Besichtigung in Hängelage - ich glaube, mir blieb für einen Augenblick das Herz stehen. Ich starrte in das Gesicht des Arztes, um an seinem Mienenspiel die Überraschung über meinen beschnittenen Penis herauszulesen. Nichts geschah in seinem Gesicht, kein Zucken, keine Bewegung. Sah er denn wirklich nichts? Jetzt anheben, nochmals Besichtigung, Vorhaut zurückziehen, so gut es ging - Ende. Ungerührt machte der Arzt einen Schritt weiter zum nächsten.
Die Musterung war vorbei, und wir konnten uns wieder anziehen. Ich verstand noch immer nicht, warum der Militärarzt nichts gesagt hatte, und grübelte auf dem ganzen Weg nach Hause darüber nach. War diese Gleichgültigkeit vielleicht nur gespielt, und er hatte doch gemerkt, daß mir ein ganzes Stück der Vorhaut fehlte, genausoviel, um den Unterschied zwischen Jude und Christ zu markieren?
Acht Tage später mußte Alex zur Musterung, in das gleiche Kreiswehrersatzamt, möglicherweise zum gleichen Arzt. Und auch bei ihm gab es keine Aufforderung, sich wegen des Beschnittenseins zu erklären.
Im September 1944 wurde mein Bruder Alex zu den Panzergrenadieren nach Kassel, einen Monat später, einige Tage nach dem Tod Mamas, wurde ich zur Ausbildung als Kanonier der Schweren Artillerie nach Fritzlar eingezogen. Ich ließ Papa und Paula allein in Jügesheim zurück mit ihrer Trauer, ihren Sorgen, ihrem Zores und folgte widerspruchslos dem Einberufungsbefehl.
Vier der Rekruten, die mit mir auf einer Stube lagen, sind mir noch in Erinnerung: ein achtzehnjähriger Freiwilliger aus einem Dorf bei Duderstadt, Sohn eines Tierarztes, der es so eilig hatte, zu den Soldaten zu kommen, daß er nicht einmal mehr sein Abitur machte und bereits vier Monate später an der Ostfront als vermißt gemeldet wurde; ein Musiker aus Göttingen, der vom Morgen bis zum Abend über seine zerschundenen Hände jammerte, die wohl exzellent mit einem Cello, aber nicht mit einem Gewehr und schon gar nicht mit einer 15-cm-Feldhaubitze umzugehen wußten; der Sohn des Schriftstellers und Hitler-Apologeten Friedrich Bethge, den ich später im Lazarett wiedertraf, der nicht müde wurde, dem Vater Lorbeerkränze zu flechten, und immerzu von rassischer Elite, griechischer Geisteshaltung und der Würde des Menschen redete; und schließlich ein Staatsanwalt vom Sondergericht in Kassel mit einem kleinen Vogelgesicht und einer hellen piepsigen Stimme, der mich das Grausen lehrte.
An den Abenden nämlich sprach der Staatsanwalt gern von seiner Arbeit, den Delikten, die in die Verantwortung eines Sondergerichts fielen - von Plünderei bis Volksverhetzung - sprach von den Schwierigkeiten der Verständigung mit den angeklagten Zwangsarbeitern und von den vielen Todesurteilen, die er beantragt und die an dem Kasseler Sondergericht gefällt wurden. Oder er schilderte mit beklemmender Sachlichkeit alle Details einer Hinrichtung durch das Fallbeil.
Einmal erzählte er, daß aufgrund einer Denunziation ein nach Kassel zugezogener Mann verhaftet worden war, bei dem gefälschte Personalpapiere gefunden wurden. Die Gestapo überstellte ihn den Justizbehörden, und durch des Staatsanwalts geschickte Ermittlungen und Verhöre, die sehr langwierig und schwierig waren, wie er sagte, wurde der Verhaftete als Jude entlarvt und vor dem Sondergericht angeklagt. Fast bedauernd fügte der Staatsanwalt hinzu: »Als der Jude erkannte, daß es für ihn keinen Ausweg mehr gab, hängte er sich, noch vor der Verhandlung, in seiner Zelle auf.« Er habe sich selbst gerichtet, sagte der Staatsanwalt.
Ich stellte mir vor, daß ich es hätte sein können oder mein Bruder Alex, der dem vogelgesichtigen Staatsanwalt in die Finger geraten sei und daß er statt des andern mich oder Alex als Jude entlarvt hätte. Und wieder sah ich mich hängen, diesmal nicht mit den Füßen nach oben in den Gitterstäben des Treppenhausfensters, sondern mit den Füßen nach unten und mit schräggestelltem Kopf, und die helle Stimme des Staatsanwalts tönte: »Er hat sich selbst gerichtet.« Alex hätte ich mir nicht aufgehängt vorstellen können, er würde sicherlich bis zum letzten Augenblick um sein Leben gekämpft haben.
Höhepunkt der Ausbildung war ein mehrwöchiger Aufenthalt in einem Abhärtungslager auf einer Bergkuppe bei Fritzlar. Nachts ging die Temperatur auf minus zehn Grad zurück. Ich erkältete mich und bekam eine fiebrige Halsentzündung. Der Arzt im Krankenrevier glaubte, eine Diphtherie zu erkennen, und wies mich ins Lazarett ein. Das war Mitte Januar 1945. Ich packte meine wenigen privaten Dinge in einen Karton und begab mich in die Obhut der Ursulinen. Das Ursulinenkloster in Fritzlar war während des Krieges als Reservelazarett eingerichtet worden.
Damit hatte ich bis zum Abtransport an die Front einen nicht zu knapp bemessenen Aufschub erhalten, denn ich kam auf die Infektionsstation und hatte wegen der notwendigen drei Diphtherieabstriche, die nach Kassel zur Untersuchung geschickt werden mußten, mindestens drei Wochen Zeit bis zur Entlassung. Die beiden ersten Abstriche waren negativ, der dritte dagegen positiv, ich war also, obwohl ich längst keine Halsschmerzen mehr hatte, Bazillenträger und mußte weiter auf der Infektionsstation bleiben.
Nach vier Wochen aber stand ich endgültig zur Entlassung bereit. Ein Sanitätsunteroffizier brachte mir den Bescheid, ich habe mich in zwei Tagen zum Abrücken in die Kaserne fertig zu machen, denn dann werde meine Einheit an die Ostfront abgehen.
Doch am gleichen Tag kam in Fritzlar ein Lazarettzug von der Ostfront an, und in unsere Krankenstube wurde ein Schwerkranker mit hohem Fieber eingeliefert. Er stöhnte vor Kopfschmerzen und hatte einen plackig geröteten Körper. Nur wenige Stunden, bevor ich in die Kaserne abzumarschieren hatte, diagnostizierte der Stationsarzt bei dem Schwerkranken Fleckfieber. Zugleich wurde über unsere mit zehn Soldaten belegte Krankenstube strengste Quarantäne verhängt und damit meine Entlassung wieder für einige Zeit verschoben. Mindestens vier Wochen Quarantäne, sagte der Arzt. Meine Artillerieeinheit rückte ohne mich an die Ostfront ab, wo sie unmittelbar nach der Ankunft im Frontgebiet fürchterliche Verluste hatte, wie ich später erfuhr.
Der Fleckfieberkranke, dem wir die Quarantäne verdankten, starb kurze Zeit darauf in Bad Wildungen, wohin man ihn, leider zu spät, zur Spezialbehandlung gebracht hatte.
Noch bevor ich in Quarantäne kam, besuchte mich Alex im Lazarett. Von Kassel aus war er nach einem kurzen Heimaturlaub an die Ostfront abkommandiert worden, fuhr einen Umweg über Fritzlar und brachte mir einen Kuchen von Mimi mit. Die letzten Worte, die wir miteinander wechselten, waren das gegenseitige Versprechen, an der Front die erstbeste Gelegenheit zum Überlaufen zu nutzen. Das war wie ein Selbstbetrug in einer ausweglosen Lage, denn wir wußten beide längst, daß in der Endphase des Krieges auf beiden Seiten keine Gefangenen mehr gemacht wurden, daß es zu dieser Zeit nur noch ein gegenseitiges Abschlachten gab.
Ich verabschiedete mich von Alex am Tor des Lazaretts und blickte ihm nach, bis er in der Dunkelheit verschwunden war. Das Herz wurde mir schwer. Ich hatte eine Ahnung, daß ich meinen Bruder Alex, den ich über alles liebte, nicht mehr wiedersehen würde.
Bis zum heutigen Tag mache ich mir Vorwürfe, mitschuldig zu sein am Tode meines Bruders. In schlaflosen Nächten überlege ich, was ich alles versäumt habe, um ihm das Leben zu bewahren. Ich war der Ältere, der Erfahrenere, in dieser Phase des Krieges mußte ich ihn daran hindern, an die Front zu fahren - egal wie, und wenn ich ihn lazarettreif geschlagen hätte. Doch ich ließ ihn laufen, hielt ihn nicht einmal fest. Alex hatte Vertrauen zu mir; würde ich ihn beschworen haben, sich irgendwo in Frankfurt zu verkriechen, er wäre meinem Rat gefolgt und hätte eine Chance gehabt zu überleben. Ich wußte, daß diese Überlebenschance an der Ostfront winzig klein war. Aber ich schwieg.
Der immer fröhliche Alex, der nie daran zweifelte, noch die Zeit nach dem Untergang der Hitlerära zu erleben, der noch auf dem Weg an die Front Briefe voller Zuversicht schrieb, der in der Hölle des Untergangs Zukunftspläne schmiedete und Zeit fand, sie niederzuschreiben und mit der Feldpost nach Hause zu schicken, mein Bruder Alex wurde in den allerletzten Kämpfen dieses Krieges, kaum zwanzig Jahre alt, von denjenigen getötet, denen seine ganze Sympathie galt, auf die er seine ganze Hoffnung auf eine bessere Zukunft gesetzt hatte.
Der unserer Quarantänestation zugeteilte Militärarzt, ein Wiener, seinen Namen habe ich vergessen, war mir in einer merkwürdigen, nicht ganz verständlichen Weise zugetan. Als ich, offenbar von dem eingelieferten Fleckfieberkranken infiziert, einige Tage später einen leichten Fleckfieberanfall bekam, setzte er sich zu mir ans Bett und sagte so leise, daß es außer mir niemand hören konnte:
»Sie werden doch nicht kurz vor dem Ende schlappmachen wollen! Der Krieg geht nicht mehr lange, dann müssen Sie auf den Beinen sein. Reißen Sie sich zusammen!«
Und ein anderes Mal, als es mir schon wieder besserging: »Haben Sie sich eigentlich überlegt, in welcher Lage Sie hier sind? Entweder Sie kommen mit dem nächsten Schub an die Front oder die Amerikaner schnappen Sie.«
»Das weiß ich, aber was soll ich tun?« gab ich zur Antwort.
»Das müssen Sie sich schon selbst überlegen. Gott hilft dem, der sich selbst zu helfen weiß.« Und nach einer Pause fuhr er fort: »Ich habe mir auch schon Gedanken darüber gemacht. Man müßte sich Zivilkleidung besorgen und aufs Land gehen, zu einem Bauern. Da wäre man wahrscheinlich am sichersten.«
Er untersuchte mich schweigend, zog mir die Decke über den Bauch, beugte sich über mich und flüsterte: »Soll ich Ihnen sagen, was Sie tun müssen? Abhauen, Mann! Nichts als abhauen!« Damit wandte er sich dem nächsten Kranken zu.
Diese Gespräche, wenn auch geflüstert, waren nur möglich, weil mein Bett, als ich den Fleckfieberanfall bekam, in dem verhältnismäßig großen Saal vorsorglich etwas separiert von den anderen Kranken gestellt worden war, so daß wir mit Sicherheit keine Mithörer zu befürchten brauchten.
Er sprach mit niemandem sonst im Krankensaal so lange, das konnte ich genau beobachten. Doch ich hatte keine Gelegenheit mehr, seinem Rat zu folgen: Schon zwei Tage später war der Kanonendonner der amerikanischen Geschütze zu hören. Jede Stunde kamen neue Meldungen über den Frontverlauf und die Positionen der kaum noch aufgehaltenen alliierten Panzerkolonnen.
Im Lazarett herrschte große Aufregung. Wie aufgescheuchte Nachtfalter flatterten die Nonnen in ihrer knöchellangen schwarzen und weißen Ordenstracht durch die Gänge. Novizinnen, weltliche Krankenschwestern, Ärzte und militärisches Dienstpersonal hasteten durcheinander. Mehrere Male am Tag gab es Fliegeralarm. Dann mußten wir, die Gasmaske am Arm, hinunter in die engen Kellerräume des Klosters, wir zehn Patienten von der Quarantänestation immer zuletzt und in einen eigenen winzigen Raum, wo wir so eng beieinander saßen wie die vielen Kakerlaken, die sich an allen Flächen und besonders in den Ecken des feuchten Kellergewölbes drängten.
Eine weltliche Krankenschwester, mit der ich mich während der langen Quarantäne angefreundet hatte und die unmittelbar neben dem Kloster wohnte, bot mir an, in ihre Wohnung zu ziehen, wenn das Lazarett aufgelöst werden sollte. Sie zeigte mir auch, wie ich unbemerkt dorthin gelangen könnte. In Gefangenschaft zu kommen, sagte sie, sei immer noch besser, als an die Front abtransportiert zu werden, und damit hatte sie zweifellos recht. Von der Lazarettauflösung bis zur Ankunft der Amerikaner konnten höchstens zwei, drei Tage vergehen, und ich wäre gerettet gewesen. Ich traute mich nicht, zögerte und ließ die Chance vorübergehen.
Die Quarantäne war längst aufgehoben. Alle gehfähigen Lazarettinsassen mußten ihre Uniformen anziehen und in die Artilleriekaserne abmarschieren. So wurden diejenigen, die hoffnungsvoll darauf gebaut hatten, im Lazarett das Ende zu erleben, noch in der letzten Stunde des Krieges an die Front, vielleicht in den Tod geschickt.
Und damit auch keiner auf dem Weg vom Lazarett in die Kaserne die falsche Richtung einschlage, waren mehrere Unteroffiziere der Ausbildungsabteilung der Schweren Artillerie ins Lazarett gekommen, um die kranken Soldaten sicher in die Kaserne zu geleiten.
Ich saß in Uniform und Schnürstiefeln auf meinem Bett, wartete auf den Marschbefehl und rauchte eine selbstgedrehte Zigarette nach der anderen. Am letzten Tag hatte man nämlich den Lazarettinsassen noch großzügige Tabakrationen ausgeteilt, nachdem wir wochenlang keinen Tabak bekommen hatten, drei Päckchen für jeden. Es gab zwar kein Zigarettenpapier, aber wir hatten gelernt, in Zeitungspapier zu drehen.
Von Zeit zu Zeit erschien ein Feldwebel in der Tür, rief ein oder zwei Namen auf und übergab die Entlassungspapiere aus dem Lazarett. Ein letztes Händeschütteln, und einer nach dem andern zog ab in die Kaserne. Keinen von ihnen habe ich je wiedergesehen.
Wir waren nur noch zu zweit. Ein junger Stahlwerksarbeiter aus Soest und ich. Der andere hatte den Wundbrand im bereits amputierten linken Arm und hohes Fieber. Der Arzt meinte, es sei sehr schlimm um ihn bestellt, denn er habe keinen Willen mehr zum Weiterleben, und er wisse nicht, wie er ihm helfen solle. Knapp vierzehn Tage zuvor hatte der junge Soldat die Nachricht erhalten, daß seine Mutter und seine fünfzehnjährige Schwester bei einem Bombenangriff auf Dortmund ums Leben gekommen waren. Er hatte lange geweint und seitdem kaum noch mit jemandem gesprochen, lag nur da und hatte fast immer die Augen geschlossen.
Ich saß neben ihm und versuchte, ihm ein wenig Mut zu machen: »Mensch, beiß' die Zähne zusammen. Für dich ist doch der Krieg zu Ende!« Was sollte ich anderes sagen? Ich legte ihm die Hand auf den heißen Kopf, für einen Augenblick schlug er die Augen auf und schaute mich an. »Mach's gut, Kumpel«, sagte er leise, »sieh zu, daß du gesund nach Hause kommst.« Und mit seiner rechten Hand berührte er die meine. Ich hätte losheulen mögen.
Der Feldwebel kam wieder herein. Nun war ich an der Reihe. Aber er hatte keine Papiere in der Hand.
»Kanonier Senger.«
Ich stand auf und schaute ihn fragend an.
»Melden Sie sich beim Stabsarzt. Sofort. Verstanden?«
»Jawohl.«
Trotzdem verstand ich nicht, was das heißen sollte. Untersuchungen und ärztliche Behandlungen gab es schon seit Tagen nicht mehr. Nur noch so Schwerkranke wie mein Bettnachbar aus Soest wurden versorgt. Dieser Befehl bereitete mir Unruhe.
Ich war stets unruhig, wenn ich etwas tun mußte, was nicht in der Norm lag. Mama hatte mir eingeprägt, immer nur das zu tun, was andere auch machten, nie aus der Reihe zu tanzen, jedes Auffallen zu vermeiden. Zwei Jahrzehnte lang habe ich das so sehr geübt, daß ich in meiner Unscheinbarkeit zu erstarren drohte und noch lange nach der Hitlerzeit erschrak, wenn ich eine Meinung kundtun, Profil zeigen sollte.
Mit Herzklopfen ging ich den Gang entlang zum Stabsarzt, trat ein und machte Meldung.
»Schon gut.« Er winkte ab, als wolle er sagen: das können Sie sich jetzt auch sparen. Er nahm einige Papiere von seinem Schreibtisch und sagte in dienstlichem Ton: »Ich habe bei Ihnen einen Herzmuskelschaden festgestellt. Sie sind dienstunfähig und brauchen eine Spezialbehandlung. Am besten in Bad Nauheim.«
Bad Nauheim war noch nicht von den Amerikanern besetzt und lag in Richtung Frankfurt.
»Ich habe bereits Ihre Krankenpapiere fertiggemacht. Und hier ist der Marschbefehl, damit Sie keine Schwierigkeiten bekommen.« Überrascht und ungläubig schaute ich ihn an.
»Ja, ja, das geht schon in Ordnung«, sagte er. »Lassen Sie sich in Bad Nauheim behandeln. Nehmen Sie sich Zeit.« Er steckte alles zusammen in einen Umschlag, den er mir in die Hand drückte. Dann sagte er: »Alles Gute. Ich hoffe, Sie kommen durch. Gehn Sie mit Gott.«
Das bedeutete, daß ich nicht in die Kaserne mußte und damit vorläufig auch nicht an die Front. Viel später erst machte ich mir klar, welches Risiko der Arzt mit der Ausstellung dieser Papiere auf sich genommen hatte. Nie zuvor war bei mir ein Herzfehler diagnostiziert worden, den hatte er nur für den Eintrag in die Krankenpapiere erfunden, um mich auf den Weg nach Bad Nauheim schicken zu können. Eine vernünftige Erklärung für dieses Verhalten habe ich bis heute nicht, denn das gleiche hätte er auch bei den andern machen können oder doch wenigstens bei mehreren. Er tat es nicht, alle anderen Stubengenossen, die mit mir in Quarantäne waren, wurden in die Kaserne geschickt zum Abtransport an die Front.